Du hast dich gefragt, warum Éllise einen letzten Brief an Lily schreibt, obwohl diese vor ihren Augen in Dämonengestalt einen anderen Menschen umbringt? Und du hast dich vielleicht auch gefragt, warum Lily zum Hause der Scotts zurück kehrt, obwohl sie Éllise eigentlich vergessen wollte.
Nun, hier wirst du die Antworten auf deine Fragen erhalten.
Dieses Bonuskapitel spielt zwischen Kapitel 15 und 16.
Viel Spaß,
xo, Lea
Ich brütete an meinem Schreibtisch über Papiere und Verträge, während draußen der Schnee fiel und die Sonne an diesen Tagen nicht so recht aufgehen wollte. Paris war im Winter immer furchtbar kalt. Das Wetter zu dieser Jahreszeit versuchte alles, um die Bewohner dieser Stadt zu Hause einzukerkern, vor den lodernden Feuern ihrer Öfen.
Dennoch wollte ich an diesem Abend nirgends weniger sein als in meiner kalten, leeren Villa. Knurrend stieß ich die Papiere und Notizbücher vom Tisch.
»Miss Blake«, hörte ich plötzlich zaghaft fragen. Chloe, meine Hausdame, stand in der Tür des dunklen Arbeitszimmers. »Hier ist jemand, der Euch sprechen will.« Ich ließ mich schwer in den Stuhl fallen: »Lasst die Person reinkommen.« Wer es auch war konnte meine Laune unmöglich heben. Aber Gesellschaft war immer noch besser, als allein mit meinen Gedanken zu sein. Ich blickte nachdenklich auf meine Hände, als der Gast eintrat. Ich musste nicht aufsehen, um ihn am Gang seiner schweren Stiefel zu erkennen.
»So werden sich Eure Probleme nicht lösen«, es war Matisse, ein junger, eifriger Mann, der für mich arbeitete. Ich blickte auf. Matisse’s Kleider waren durchnässt vom Schnee. Er wirkte erschöpft.
»Probleme«, schnaubte ich verächtlich, »Dieser Papierkram ist reine Zeitverschwendung.«
»Ihr könntet ihn von jemand anderem für Euch erledigen lassen«, schlug Matisse gewohnt nüchtern vor. Ich brummte: »Es gibt Dinge, um die ich mich selbst kümmern muss.«
»Indem Ihr sie vom Tisch werft?«
»Wenn Ihr nur hier seid, um mir nutzlose Ratschläge zu geben, sind wir fertig«, verkündete ich gereizt. Matisse ignorierte meine schlechte Laune und verschränkte die Arme hinter dem Rücken: »Aber nein, Miss Blake. Ich habe gute Nachrichten.« Ich hob eine Augenbraue: »Ihr habt also diese kleine Ratte endlich gefunden, die mich ausspioniert?«
»Oh ja«, verkündete Matisse mit Stolz in der Stimme, »Sein Name war …«
»WAR?!?«, unterbrach ich ihn irritiert. Matisse hob entschuldigend die Schultern: »Wir haben ihn schon tot gefunden. Er hing an einem Strick. Sebastian hat seine Unterlagen mitgenommen. Wenn Ihr es wünscht, bringe ich sie Euch.« Ich winkte ab und stützte die Stirn auf meine Hände: »Ach, wen interessiert das jetzt noch? Verbrennt seine Leiche und seine verdammten Unterlagen.«
»Wie Ihr wollt«, sagte Matisse. Ich starrte weiter auf die Tischplatte unter mir. Meine Gedanken schweiften schon wieder ab. Dieser Detektiv hatte mit Antoine zusammengearbeitet. Er hatte ihm mein Geheimnis verraten. Dass ich eine Dämonin war. Wegen ihm …
In der Stille hatte ich fast vergessen, dass Matisse noch immer im Raum stand.
»Wann wart Ihr das letzte Mal draußen?«, seine Stimme war plötzlich weicher. Ich straffte die Schultern und sah ihn an. »Ich bin ständig draußen«, log ich. Matisse verschränkte die Arme nun vor der Brust: »Natürlich. Man sieht Euch ständig. Bei Euren Geschäften in den Lagerhallen, auf ausschweifenden Partys und in den Betten irgendwelcher schöner Männer.«
Sein Sarkasmus war unüberhörbar. Ich rümpfte die Nase: »Ich genieße ausschweifende Zeit mit mir alleine.«
»Das sehe ich?«, meinte Matisse. Ich folgte seinem Blick in eine dunkle Ecke des Arbeitszimmers, in die alle leeren Alkoholflaschen gerollt waren, als würden sie versuchen, sich dort zu verstecken. Natürlich ohne Erfolg.
»Ich gehe jetzt nach Hause, Lily. Der Tag war echt lang, ich bin totmüde«, Matisse hatte offensichtlich aufgegeben, mit mir zu diskutieren. Er drehte sich auf den Absätzen und lief mit langen Schritten zur Tür. Ich fixierte seinen Rücken. »Weißt du was«, hörte ich mich plötzlich selbst sagen, »Du hast recht.«
Matisse hielt an und drehte sich um. Er beobachtete mich skeptisch, als ich mich aufrichtete und ihn böse angrinste. »Lass uns heute Abend etwas Spaß haben!«, verkündete ich feierlich. »Das heißt dann wohl, dass ich heute nicht nach Hause gehe?«, hakte Matisse nach. Ich hob einen der Briefe auf, die ich vor wenigen Minuten frustriert heruntergeworfen hatte, und wedelte damit vor Matisse’s Nase herum. »Monsieur Richard gibt heute Abend eine Party auf seinem Anwesen und ich beabsichtige, in Begleitung dorthin zu gehen«, ich lächelte kokett. Matisse verdrehte die Augen, doch schnaubte geschlagen: »Und natürlich wusstet Ihr nicht erst jetzt, dass Ihr dorthin zu gehen gedenkt. Erlaubt mir, mich für einen Moment frischzumachen.«
—⧫—
Monsieur Richard war einer der reichsten Männer in Paris. Er engagierte sich politisch und besaß Beziehungen zu den höchsten Kreisen. Seine Feste galten als die glamourösesten und beeindruckendsten der gesamten Stadt. Ich war ab und an zugegen, hielt mich allerdings eher im Hintergrund und genoss das Spektakel verlustierender Menschen, das sich mir bot.
In aller Eile hatte ich mich in ein elegantes dunkles Kleid gezwängt und etwas Puder aufgetragen. Kaum zu glauben, dass ich mich so schnell von einem Elend in etwas Passables verwandeln konnte. Das Kleid besaß ein Dekolleté, das einen großzügigen Blick auf meine tintenschwarzen Male bot. Ein pelzbesetzter Mantel schützte mich vor dem eisigen Wind. Matisse half mir aus der Kutsche. Er war nun ebenfalls ordentlich gekleidet. Chloe hatte etwas Passendes für seine Größe auftreiben können. Allerdings konnte der schlank geschnittene Smoking nicht seine hängenden Schultern und seinen müden Blick kaschieren.
Schon von draußen hörten wir zügelloses Gelächter und lebendige Musik. Die Lichter in der gigantischen Villa von Monsieur Richard strahlten uns von weitem entgegen. Als wir eintraten, war es, als würde man in gleißendes Licht eintauchen. Die Party war bereits voll im Gange. Man reichte uns Champagner als Empfang. Matisse hielt sein Glas steif in der Hand, als würde er auf der Stelle in die Hölle verbannt werden, wenn er auch nur einen Schluck davon nähme. Ich lehrte das Teufelszeug in einem Zug runter und schleifte meine Begleitung direkt auf die Tanzfläche.
Es tat gut, sich im Takt der Musik treiben zu lassen. Für einen Moment konnte ich vergessen. Für einen Moment fühlte es sich an wie früher. Ich spürte, wie meine Kraft in mir pulsierte. Wenn ich wollte, könnte ich alle um mich herum augenblicklich töten. Es war eine dämonische Freude, das zu wissen. Aber ich tötete nie grundlos. Der Gedanke verursachte ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend.
»Ich brauche einen Drink«, schrie ich Matisse ins Ohr. Er ließ ohne Widerstand meine Hand los. »Ich gehe an die frische Luft«, keuchte er und konnte gar nicht schnell genug verschwinden. Feigling.
Ich drängte mich an die golden verzierte Bar und bestellte einen Hemingway. Ich drehte mich und betrachtete den Raum. Das Haus von Richard war bis unter die Decke pompös eingerichtet. In einer Ecke standen mehrere schwere Sessel, die sich alle um einen riesigen Ofen drängten, in dem ein niedriges Feuer brannte. In der Ecke gegenüber war eine kleine Bühne aufgebaut, auf der die Band ihre Lieder zum Besten gab. An normalen Tagen stand dort ein Flügel, wenn ich mich recht erinnerte. Die tanzenden Körper drehten sich unter einem schweren Kronleuchter. Die Glastropfen, die daran hingen, glitzerten so schön, dass man sich in ihrem Anblick verlieren konnte.
»Genießen Sie den Abend?«
Ich drehte mich zurück zur Bar. Neben mir war ein Mann aufgetaucht, mit dunklen Haaren und dichtem Bart.
»Entschuldigen Sie, kennen wir uns?«, fragte ich. »Zu meinem Bedauern noch nicht«, meinte der Fremde und hielt mir seine Hand entgegen, »Mein Name ist Etienne.«
»Lily«, sagte ich knapp und reichte ihm die Hand, »Sehr erfreut.«
Der große Mann lächelte: »Lily, ich habe Sie heute tanzen sehen, Sie tanzen sonst nie.« Ich war überrascht, konnte aber meine Ruhe bewahren und erwiderte das verträumte Lächeln von Etienne. »Kennen Sie alle Gäste so gut, oder warum beobachten Sie ausgerechnet mich so genau?« Etienne lachte auf: »Ich kenne die meisten Gäste meines Vaters sehr gut.«
»Sie sind der Bruder von Baptiste Richard!«, stellte ich fest. Mit Baptiste hatte ich einige Geschäfte am Laufen. Mir war nie klar gewesen, dass er einen gutaussehenden Bruder hatte. Der Mann, der nun vor mir stand, nickte: »Der Jüngere, ja.«
»Wie kommt es, dass ich erst jetzt das Vergnügen habe, Sie kennenzulernen«, meiner vorherigen Skepsis war aufrichtiges Interesse gewichen. »Nun, ich gehe für normal nicht auf Partys«, Etienne kratzte sich verlegen im Nacken. Mir gefiel das. Er wirkte etwas schüchtern, aber auch frech. »Woher kennen Sie dann alle Gäste so gut?«, ich nippte an meinem Cocktail. »Ich schreibe die Einladungen … und ehrlich gesagt auch sonst die meisten Briefe meines Vaters. Ich bin Kalligraph«, erklärte Etienne. »Kalligraph, so so …«, ich legte den Kopf schief und musterte seine weichen Züge, »Sie benehmen sich gar nicht wie ein Künstler.« Etiennes Augenbrauen sprangen vor Überraschung nach oben. Seine Augen fixierten mich, als würde er versuchen, mich zu lesen. »Was bringt Sie zu dem Schluss?«, fragte er. »Nun«, ich drehte mich zur Bar, um mein Glas abzustellen, und blickte ihn kokett über eine Schulter an, »Sie flirten mit mir.«
—⧫—
Der Abend war interessanter verlaufen, als ich zu Beginn angenommen hatte. Ich hatte mit wenig Bedauern früh die Party im Ballsaal verlassen und nach etwas Ablenkung im Schlafzimmer von Etienne gesucht. Die Mischung aus Vorsicht und fahriger Begierde war es, was mir an ihm gefiel. Fasziniert hatte er meine Tätowierungen betrachtet und sie mit den Fingern nachgefahren, als würde er sie selbst mit Tinte schreiben. Wir vergnügten uns bis weit nach Mitternacht. Und obwohl ich es genoss, fühlte es sich routiniert an. Als Dämon nährte ich mich von der Lust Anderer. Es war wie atmen.
Und dann war es vorbei.
Etienne war irgendwann neben mir im Bett eingeschlafen. Ich betrachtete seinen nackten Körper im kalten Mondlicht, das durch das Fenster fiel. Seine Brust hob und senkte sich sanft. Ich konnte nicht schlafen. Um ehrlich zu sein, hatte mich der Abend mehr aufgewühlt als abgelenkt. Die glücklichen Gesichter der Partygäste, die gelösten Bewegungen der Tanzenden, die verlangenden Berührungen von Etienne hatten mich lediglich daran erinnert, dass man nicht alles haben konnte, so sehr man es auch begehrte.
Ich stand auf und zog mir einen Morgenmantel an, den ich über einem Stuhl fand. Er war aus schöner purpurner Seide gemacht und passte mir perfekt. Gab es vielleicht eine Mrs. Richard, dachte ich böse und verließ mit einem letzten Blick auf den friedlich schlummernden Etienne das Zimmer. Der Flur lag still und dunkel vor mir. Der dicke Teppich dämpfte meine Schritte. Von unten schien schwaches Licht herauf. Aber ich hörte keine Musik oder Stimmen. Die Party war vorbei. Alle waren nach Hause gegangen oder auf die Gästezimmer verschwunden. Oder doch nicht alle. Wie ich feststellte, saß Matisse am Fuß der Treppe und hielt eine Weinflasche in der rechten Hand. Er war in sich gesunken und starrte gedankenverloren ins Nichts.
»Ich dachte, du bist müde«, meine Stimme durchbrach die Stille der Nacht. Ich setzte mich ein paar Stufen über Matisse und stützte die Arme auf den Knien ab, um mein Kinn in die Hände zu legen. Der angetrunkene Mann drehte sich leicht zu mir um und blickte mich wenig überrascht aus alkoholschweren Augen an. »Und was ist mit Euch?«, konterte Matisse, »Was bringt Euch um den Schlaf?«
Eine gute Frage. Ich seufzte und dachte darüber nach. All die Wochen schon geisterten dunkle Schatten durch meinen Kopf. Ich konnte sie nicht greifen. Versuchte sie, von mir zu stoßen, und fühlte stattdessen, wie ich mich immer mehr in ihnen verlor. Aber oft war da einfach nur eine Leere, eine schwarze, endlose Leere in meinem Geist. Ich wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Alles war wirr und außer Kontrolle.
»Ich frage mich immer wieder, was passiert wäre, wenn ich ihr nie geantwortet hätte«, sagte ich schließlich. Matisse schwieg, hörte zu.
»Ich hätte sie nicht mit nach Hause nehmen sollen«, ich rieb mir die Sorgenfalten auf der Stirn, »Sie hätte das nicht mitansehen dürfen.«
»Als Ihr einen Menschen umgebracht habt?«, hakte Matisse nach, obwohl er wusste, wovon ich sprach. »Sie hat mich gesehen, wie ich wirklich bin«, sprach ich weiter. Ich sah Éllise wieder ganz genau vor mir, ihr Blick voller Abscheu und Furcht, »Als wäre ich … als wäre ich ein Monster.«
»Seit wann interessiert es Euch, dass Ihr von anderen als Monster angesehen werdet?«, fragte Matisse trocken. Ich hörte ihm kaum zu, war ganz darin versunken, meine Gedanken endlich zu ordnen. »Ich hätte sie schon längst vergessen sollen. Was kümmert mich eine Sterbliche. Aber ich kann einfach nicht damit aufhören … an sie«, ich suchte nach den richtigen Worten. Es war mir egal, ob mein Gegenüber verstand, was ich vor mich hin murmelte. Ich seufzte: »Es ist, als hätte ich irgendetwas verloren. Etwas, das zu mir gehört hat. Und zurück bleibt diese dumpfe Leere.« Ich schüttelte den Kopf über meine eigenen Worte: »Was für ein Unsinn.«
»Ihr habt euch verliebt«, hörte ich leise die Stimme von Matisse. Er klang verschmitzt: »Lily Blake. Die kaltherzige und unbesiegbare Dämonin unterliegt der größten menschlichen Schwäche.«
Ich blickte auf und sah Matisse entgeistert an. Er hatte recht.
—⧫—
Éllise hatte gekocht, den Tisch gedeckt, Adele zu Bett gebracht und sich umgezogen. Nun saß sie Dale gegenüber am langen Esstisch. Das Feuer im Kamin knackte. Das Schaben des Löffels, während Dale seine Suppe aß, klang unerträglich in der Stille. So ging das nun schon seit einiger Zeit. Dale kam abends spät nach Hause, Éllise bereitete alles für ihren Ehegatten vor und dann schwiegen sie sich an. Dabei war sie so sehr bemüht, ihm Freude zu bereiten. Sie kochte seine Lieblingsgerichte, schminkte sich, hielt das Haus sauber und traf sich tagsüber mit den anderen Ehefrauen seiner Geschäftsfreunde. Sie wünschte sich so sehr ein liebes Wort von Dale. Ein Lächeln würde genügen, dass sie wüsste, alles würde wieder in Ordnung werden. Éllise sehnte sich nach einer liebevollen Berührung. Dass er sie sanft streichelte und ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte. So wie es–
Wann immer Éllise an diesem Punkt ihrer Grübeleien kam, kroch plötzlich eine eisige Kälte in ihr hoch.
So wie es Lily immer getan hatte. Eine Schlange, die sie umgarnt hatte, ihr schmeichelte, ehe sie zustieß, um ihre Beute zu erlegen. Was hätte dieser Dämon ihr irgendwann angetan? Hätte sie Éllise getötet? Die junge Frau hatte anfangs gefürchtet, Lily würde ihr auflauern und sich an ihr rächen wollen. Doch aus irgendeinem Grund fand Éllise den Gedanken eigentlich unbegründet. Sie erinnerte sich daran, als sie die Dämonenfrau das letzte Mal gesehen hatte. Die hängenden Schultern, das Bedauern in den Augen. Hatte Lily ihr auch das nur vorgespielt? Éllise wusste es nicht. Sie hoffte inständig, dass ihr Gefühl sie nicht trügte und sie den Dämon nie wiedersehen müsste. Sie wusste, wie naiv und gefährlich das war, aber sie wollte sich darum nicht kümmern. Sie wollte einfach, dass er vorbei war.
Sie straffte die Schultern und hob den Blick. Ihre schweren, mit Edelsteinen besetzten Ohrringe schwangen bei der Bewegung mit. Éllise zwang sich zu einem gelassenen Lächeln. »Ich hoffe, dir schmeckt es heute besonders gut, mein verehrter Gatte«, sprach sie höflich zu Dale. Dieser aß unbeeindruckt seine Suppe weiter. »Ich habe frische Spargelspitzen vom Markt geholt. Der Verkäufer war sehr freundlich. Er hat gesagt, Adele sei ein wunderschönes Mädchen. Das muss daran gelegen haben, dass sie das rosa Mützchen getragen hat, das ihr Madam Petit genäht hat. Erinnerst du dich daran? Es war ein Geschenk«, Éllise verfiel bewusst in einen Plauderton. Sie versuchte alles, um die Stimmung zwischen sich und Dale zu heben. Doch dieser starrte noch immer grimmig in die Suppe und schwieg. Éllise holte tief Luft und legte ihr eigenes Besteck aus der Hand. »Ich habe auch von deinem erfolgreichen Geschäft mit Monsieur Laurent gehört. Gratulation. Ich habe es von seiner Frau erfahren. Die beiden haben einen wunderbaren Sohn, Frederic. Er nimmt jetzt Klavierunterricht. Wäre es nicht schön, wenn Adele auch eines Tages ein Instrument spielen könnte?«, ihre aufsteigende Nervosität brachte Éllises Stimme langsam zum Zittern. Dale hatte innegehalten. Der Löffel schwebte zwischen der weißen Porzellanschale und seinem Mund. Dann krachte das Besteck ohne Vorwarnung mit lautem Klirren in die Suppe zurück. Éllise zuckte zusammen.
»Schluss mit diesen Spielchen!«, Dale funkelte seine Ehefrau über den Tisch hinweg an. Seine Worte legten sich schwer über den Raum und nahmen Éllise die Luft zum Atmen. Was hatte er da gerade gesagt? Dales Augenbrauen zogen sich zusammen. Seine Faust war vor Wut geballt. »Du tust so unschuldig. Die ganze Zeit. Dabei betrügst du mich seit Wochen, Monaten, wer weiß schon wie lang und wer weiß mit wie vielen!«, knurrte Dale angewidert. Éllise riss die Augen geschockt auf. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Sie konnte nur langsam und ungläubig den Kopf schütteln. »Nein, Dale«, keuchte sie verzweifelt, »Das stimmt nicht.« Ihr Ehemann schnaubte verächtlich: »Ach ja. Was stimmt denn dann, Liebes? Erkläre es mir? Wer ist es?«
»Dale, bitte hör auf damit«, flehte Éllise leise. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihr Gatte stand fahrig auf, sodass die Gläser auf dem Tisch gefährlich wankten. »Ich habe eine Nachricht erhalten, dass ich dir nicht trauen kann. Dass du herum hurst, während ich für meine Familie hart arbeite«, schrie er dabei. Ehe Éllise sich versah, war Dale um den Tisch zu ihr herüber gelaufen. Sie kauerte auf ihrem Stuhl und hob schützend die Arme hoch. Dale packte sie und riss Éllise herum, sodass sie ihn ansehen musste. »Ich schwöre dir, dass ich herausfinden werde, wer er ist, und wenn ich es jeden Abend aus meinem Weib herausprügeln muss. Und wenn du es mir dann endlich verrätst, werde ich dafür sorgen, dass das Schwein es bereut, dass er dich angefasst hat. Oh ja, das wird er, das kannst du mir glauben, Liebes!«, das letzte Wort spie Dale aus. Dann ließ er seine Frau abrupt los und verließ das Zimmer. Éllise blieb einen Moment wie benebelt zurück. Ihr ganzer Leib zitterte. Der Schock saß tief. Dabei hatte sie die letzten Wochen lediglich geleugnet, was sich in diesem Haus zusammengebraut hatte. Jemand hatte Dale von ihrer Affäre erzählt. Er hatte es die ganze Zeit gewusst und Éllise beobachtet. Und sie hatte sich die ganze Zeit vor ihm lächerlich gemacht. Ihm vorgemacht, alles wäre in Ordnung. Ihr Verhalten hatte am Ende seinen Verdacht bestätigt. Wer hatte es ihm gesagt? War es Lily gewesen? Niemals, dachte sich Éllise, damit hätte sie sich selbst verraten. Und wenn ich es jeden Abend aus meinem Weib herausprügeln muss, hörte die junge Frau die Worte ihres Gatten in ihrer Erinnerung nachhallen. Plötzlich durchfuhr Éllise einen weiteren Schock. Er hatte den Raum verlassen. Er hatte den Raum verlassen!
Éllise sprang auf und rannte die Treppe hinauf. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Tränen liefen ihr unaufhaltsam übers Gesicht. Bitte nicht Adele, flehte sie immer wieder in ihrem Kopf. Atemlos und mit rasendem Herzen erreichte sie das Kinderzimmer ihrer Tochter. Die Tür stand offen. Sie sah, wie Dale vor dem kleinen Bettchen stand. Er blickte hinab auf das schlafende Kind. Als der Mann seine Gattin im Türrahmen bemerkte, sah er sie an. Sein Blick schnitt kalt und bösartig in Éllises Herz. Er würde Adele niemals etwas antun. Oder £vielleicht doch? Éllise wusste es nicht. Klar war nur, dass dies eine Drohung war. Dale war zu allem bereit, um seiner Frau die Wahrheit zu entlocken. Seine Augen waren nicht zu schwarzen Murmeln geworden. Seine Haut glühte nicht. Es sprossen weder Hörner noch Klauen aus seinem Körper. Und doch wusste Éllise in diesem Moment, welchen Fehler sie begangen hatte. Lily wollte sie nur schützen. Die ganze Zeit. Das wahre Monster stand nun vor ihr.
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